Enquête-Kommission berät über LiquidFeedback 

news :: 2010
von Axel Kistner am 16. September 2010

Die "Enquête-Kommission Internet und digitale Gesellschaft" des Deutschen Bundestags berät sich in diesen Tagen über einen Einsatz einer Software zur Einbeziehung von Bürgern in die politischen Arbeitsprozesse. In die nähere Auswahl ist hierbei auch LiquidFeedback gekommen.

Um entscheiden zu können, welches der beiden Systeme, die derzeit in der engeren Auswahl sind, besser für den konkreten Anwendungsfall geeignet ist, hat die Kommission einen Fragebogen erarbeiten lassen, dessen Antworten hier (PDF) zu finden sind.

Alvar Freude bloggte über den aktuellen Stand der Enquête-Kommission. Etwas überrascht waren wir über die Aussage, dass man sich nicht darüber einig sei "welches Abstimmungsverfahren besser geeignet ist und zur Geschäftsordnung des Bundestages passt: Adhocracy setzt auf eine einfache Form der Mehrheitswahl, während Liquid Feedback die Schulze-Methode anwendet".

Die Probleme der Mehrheitswahl, insbesondere in Hinblick auf taktisches Wählen, können durch moderne Abstimmungsverfahren vermieden werden. Wir möchten im Folgenden unsere Motivation beschreiben, die zur Entwicklung des LiquidFeedback-Antragsprozesses geführt hat, und erläutern, warum wir den Einsatz einer Präferenzwahl für notwendig erachten.

Bei kollaborativer Textarbeit gibt es ein Problem: Eine Menge von Personen kann Änderungswünsche an einem zu beschließenden Konzept einbringen wollen. Beim klassischen Wiki wird einfach jeder Person pauschal erlaubt Änderungen vorzunehmen. Eine Historie sorgt für Transparenz und gibt die Möglichkeit, schlechte Änderungen auch wieder rückgängig zu machen. Doch dieses Konzept birgt eine offensichtliche Schwachstelle: Wer definiert welche Änderungen schlecht und welche Änderungen gut sind? Zwei Parteien können sich über zwei Varianten des Textes streiten und dann immer abwechselnd die jeweils von der anderen Partei gemachten Änderungen zurücknehmen. Ein sogenannter Edit-War entsteht. In Wikis löst man dieses Problem oftmals durch eine Admin-Hierarchie. Wenn sich zwei Bearbeiter streiten entscheidet der Vorgesetzte. Sonderlich demokratisch ist das nicht - muss es im Anwendungsfalle vieler Wikis auch nicht sein. LiquidFeedback setzt sich jedoch das Ziel, höchste demokratische Ansprüche zu erfüllen, damit es für einen Einsatz in demokratischen Strukturen (z.B. Parteien) geeignet ist. Zur Vermeidung von Edit-Wars und der damit einhergehenden Notwendigkeit einer Hierarchie verwendet LiquidFeedback folgenden Mechanismus:

Autoren von Texten behalten ihre Bearbeitungshoheit über diese. Initiatoren entscheiden somit selbst, welche Änderungsvorschläge sie einarbeiten und welche Ideen sie bewusst unberücksichtigt lassen möchten. Hierbei wird jedoch zunächst der Anspruch an einen demokratischen Prozess verletzt, denn Initiatoren haben in Bezug auf ihre Initiative mehr Entscheidungsbefugnisse als andere Teilnehmer. Um dieses Problem zu lösen, wird es jedem Teilnehmer möglich gemacht Alternativvorschläge einzubringen, für den Fall, dass ein Antragssteller einen berechtigten Einwand unberücksichtigt lässt. Doch aufgepasst: Verwendet man ein Abstimmungsverfahren, welches dem Teilnehmer nur durch Enthaltung oder Ablehnung beim ursprünglichen Vorschlag die Möglichkeit gibt, seine Präferenz zur Alternative zum Ausdruck zu bringen, dann läuft man in ein Problem: Das Einbringen von ähnlichen Alternativvorschlägen zu einer Grundidee (oder schon das Abstimmen hierfür) schadet der Grundidee, weil sich ein Aufteilen der Stimmen auf die beiden ähnlichen Vorschläge nicht vermeiden lässt. Eine Rückkopplung auf das Abstimmungsverhalten ist die Folge, was nach demokratischen Gesichtspunkten als höchst problematisch angesehen werden muss.

Aus diesem Grund setzt LiquidFeedback ein Abstimmungssystem ein, welches das sogenannte Independence-Of-Clones-Kriterum erfüllt. Dieses Kriterium zur Beurteilung eines Wahl- oder Abstimmungsverfahrens wurde erstmalig 1987 von Nicolaus Tideman formuliert. Erst ein Abstimmungssystem, welches dieses Kriterium erfüllt, kann gemeinsam mit dem restlichen LiquidFeedback-Antragsprozess Beteiligungsmöglichkeiten schaffen, die a) keiner Moderation bedürfen und b) in höchstem Maße demokratisch sind.

Aus den genannten Gründen würden wir uns sehr über eine Entscheidung der Kommission zugunsten des LiquidFeedback-Antragsprozesses freuen.

LiquidFeedback bietet jedoch mehr als den LiquidFeedback-Antragsprozess: Die sogenannte Liquid Democracy. Hierbei geht es darum, dass Teilnehmer ihre Stimme für bestimmte Themenbereiche oder Themen an einen anderen Teilnehmer delegieren können. Warum dies eine sinnvolle Sache ist, wurde unter anderem in Folge #158 von Chaos Radio Express erläutert.

Die Kommission plant aber offenbar einen Einsatz ohne Delegation. Alvar Freude kommentiert auf dem Blog der Enquete-Kommission wie folgt:

"Allerdings wird wahrscheinlich die Delegations-Funktion ausgeschaltet, so dass es nicht möglich ist, mit Sockenpuppen sich selbst mehr Gewicht zu verschaffen."

Hierzu möchten wir erneut deutlich machen: Sockenpuppen können nur durch einen ordentlichen "Akkreditierungsprozess" vermieden werden (z. B. durch Vergabe der Zugangsberechtigung per Brief) . Die Annahme, das Abschalten der Delegationsfunktion sorge für eine Reduzierung des Problems, ist äußerst problematisch. Erhöht jemand sein Stimmgewicht mittels Delegationen, dann ist dies zumindest noch nachvollziehbar. Sind keine Delegationen möglich, können die Sockenpuppenaccounts trotzdem im eigenen Sinne abstimmen und damit das Stimmgewicht faktisch erhöhen. Ohne eine ordentliche Akkreditierung wäre dies in der Regel nicht einmal nachweisbar.

Wir beobachten mit Spannung die Entwicklungen in der Kommission und hoffen, dass unsere Erläuterungen zur Verdeutlichung der hinter LiquidFeedback liegenden Konzepte beitragen. Für die Beantwortung von Fragen stehen wir weiterhin gern zur Verfügung.